Unbekannter Schumann

Kölner Stadtanzeiger, 02.08.2006

Das Jubiläumsjahr zeitigt einige echte Entdeckungen

Ein frühes Klavierquartett und verworfene Beethoven-Etüden ermöglichen einen guten Einblick in die Werkstatt des Romantikers.

VON MARKUS SCHWERING

Die beiden anderen Jubilare des Jahres 2006 - Mozart und Schostakowitsch - werden von der CD-Industrie in einem Maße abgearbeitet, dass man sich vor dem entsprechenden Ausstoß schier ducken muss. Zurückhaltender geht es da - warum eigentlich? - in Sachen Schumann zu. Nicht lumpen lässt sich allerdings das Label MDG, das sogar mit einer veritablen Ersteinspielung aufwartet:

Die Gattung Klavierquartett hat Schumann nach verbreiteter Ansicht lediglich mit einem einzigen Werk bedacht: mit dem opus 47. Das Trio Parnassus , ergänzt um den Bratschisten Hariolf Schlichtig vom vormaligen Cherubini-Quartett, spielt nicht nur dieses Es-Dur-Stück, sondern langt tief in die Editionskiste und fördert ein zweites Werk dieser Art zutage: ein 1829, also in Schumanns kompositorischer Frühzeit, entstandenes c-Moll-Quartett, das hier in dieser Form tatsächlich zum ersten Mal auf Tonträger gebannt erscheint. Der Karlsruher Musikwissenschaftler und Schumann-Experte Joachim Draheim hat die Komposition, die keine Opuszahl erhielt, weil Schumann es nie veröffentlichte und dessen autographe Partitur durchaus fragmentarisch ist (so fehlt fast die komplette linke Klavierhand), "einspielbar" gemacht - und dabei dem "Desaster" eines anderweitigen ersten Editionsversuches von 1979 abgeholfen.

Der Meister selbst sprach von seinem "verpfuschten Quartett" - ein Urteil, das unter der stechend-unbarmherzigen Sonne der Selbstkritik einige Berechtigung haben mag. Sicher ist die Disposition des Satzes - eines riesig dimensionierten Sonaten- Allegro - trotz aller erkennbaren Bemühungen um thematische Integration letztlich nicht bewältigt. Die Polyphonie wirkt angestrengt-ostentativ, der Satz orchestral-dick. Die letzten beiden Sätze sind auch nicht sonderlich erfindungsstark, manches klingt nach Beethoven, anderes biedermeierlich genügsam. Trotzdem ist das Ganze mehr als eine Talentprobe - zumal wenn es mit so viel Verve und selbstverständlicher Virtuosität gespielt wird wie von der erweiterten "Parnassus"-Formation. Der skurrile Poet Schumann, der singen, sich lyrisch verströmen und mit merkwürdigen Ausweichungen frappieren kann, ist nicht nur punktweise "da". Und in leere Geläufigkeit verfällt das junge Genie auch hier schon nicht.

In hohem Maße erfreuen kann auch die Interpretation des späteren Klavierquartetts - vom leise-mystischen Beginn des Eröffnungssatzes bis zu den luzide gespielten Fugati und den mit der Energie von Sturzbächen donnernden Unisoni des Finales. Der makellos austarierte Kammermusik-Klang ist dabei schon gar nicht mal das Wesentliche. Gleich der schön zögernde Einsatz des "Parnassus"-Pianisten Chia Chou macht klar: Hier wird nicht einfach heruntergespielt, sondern Schumanns Welt aufgeschlossen - mit ihren unendlichen Nuancen, ihrem impressionistischen Zauber.

Nach dem frühen Experimentieren mit verschiedenen Besetzungen wandte sich Schumann in pädagogischer Selbstdisziplinierung für ein Jahrzehnt ausschließlich dem Klavier zu. Und leistete dort für die pianistische Ausdruckssphäre in einer Weise Bahnbrechendes, dass - wie dieses Schumann-Jahr erneut zeigt - die Zugangsmöglichkeiten bis heute noch nicht ausgeschritten sind.

Und auch hier wird noch Unbekanntes zutage gefördert - etwa von Ragna Schirmer , dem weiblichen Shootingstar der deutschen Klavierszene. Wie jüngst bei ihrem Auftritt in der Kölner Philharmonie stellt sie auf ihrer neuen CD (Berlin Classics) den berühmten "Sinfonischen Etüden" opus 13 (erstmals 1837 veröffentlicht) "Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven" (Werk ohne Opuszahl 31) voran. Es handelt sich um den Trauermarsch aus dem Allegretto der siebten Sinfonie.

Wie das frühe Klavierquartett hat Schumann auch diese zwischen 1831 und 1835 komponierten Stücke nie einer Veröffentlichung für wert befunden, sich vielmehr über die in seinen Skizzenbüchern teils unvollständig erhaltenen Etüden höchst despektierlich geäußert. Die hier wie dort zugrunde liegende Formidee - die Verschmelzung des Prinzips Klavieretüde mit dem der Variation - wurde in opus 13 eingelöst, während Schumann an der Beethoven-Reihe noch scheiterte. Auf hohem Niveau scheiterte, wie Schirmer eindrucksvoll darzutun vermag. Der innere Zusammenhang ist so oder so offenkundig, er erweist sich auch in Ähnlichkeiten der Spieltechnik und Figuration. Die Zusammenstellung ist also höchst plausibel.

Plausibel ist darüber hinaus die Reihenfolge, in die Schirmer die einzelnen Sätze bringt - nach Maßgabe von Schumanns eigener Neigung zu formalen Symmetrien. Bei den Beethoven-Etüden stellt sie die thematisch freien zwischen die thematisch gebundenen, beim opus 13 wählt sie die Nr. 5 als Symmetrieachse. Ihr Gestaltungssinn war deshalb gefordert, weil sie, wie auch bei dem Werk ohne Opuszahl 31, sämtliche Stücke spielt, auch die von Schumann in den Druckfassungen von 1837 und 1852 unterschlagenen.

Hier wie dort taucht die technisch makellose Spielerin, die noch im wildesten Getümmel nie alle fünf gerade sein lässt, tief in die Schumann´schen Charaktere ein, gibt den ritterlichen Attacken seines Florestan genauso ihr Recht wie dem träumerischen, aber unverzärtelten Abtauchen des Eusebius. Manche Stellen verströmen gutgepolsterte orchestrale Verve, aber wenn dann im kontrapunktischen Gewebe unversehens eine sorgfältig artikulierte Mittelstimme auftaucht, dann bringt sich hier - ganz ohne pädagogisch-starren Zeigefinger - die Force der gefeierten Bach-Spielerin zur Geltung. Das ist Begeisterung plus Besonnenheit - was kann man besseres über eine Interpretin romantischer Klaviermusik sagen?


Robert Schumann: Klavierquartette c-Moll und Es-Dur, op. 47; Trio Parnassus (MDG)


Robert Schumann: Beethoven-Etüden, Sinfonische Etüden; Ragna Schirmer (Berlin Classics)