Robert Schumann aus der Sicht des jungen Alfred Meißners

1846 in Hillers Salon in Dresden, Hiller geschmückt mit den „schönsten Nichten seit Mazarin“

[…] Da war es doch unterhaltender bei Ferdinand Hiller! Dieser, ein feiner, weltkluger, behaglicher Mann, ein ausgezeichneter Pianist, als Musiker im Mendelssohn’schen Geiste in allen Formen thätig, hatte sich seit ein paar Jahren in Dresden angesiedelt und sah jeden Mittwoch alles, was Kunst betrieb oder sonst einen Namen hatte, in seinem Salon. Dort eingeführt zu sein, war eine Auszeichnung und bot Gelegenheit alles kennen zu lernen, was Dresden an einheimischen und durchreisenden Notabilitäten aufwies. An manchen Abenden waren alle Räume gedrängt voll und fast jeder der Anwesenden hatte auf irgend einem Felde einen bekannten Namen. Es war kein ausschließlich deutscher Salon, man hörte auch viel französisch reden; die Hausfrau, eine ausgezeichnete Sängerin, die unlängst erst, um ihren Gatten zu folgen, der Bühne Lebewohl gesagt hatte, war eine Polin, schön, jung, von halbslavischem Reize. Sie hatte die wunderbarsten Augen. Drei oder vier glänzende Schönheiten gruppirten sich um sie, Verwandte, die längere oder kürzere Zeit in Dresden zubrachten. Seit Mazarin hat vielleicht Niemand so schöne Nichten gehabt wie Ferdinand Hiller. Sie sind auch alle durch ihre Schönheit zu Heiraten in ungewöhnlichen Sphären gelangt: die eine wurde eine Gräfin Kolowrat, die andere die Frau des französischen Schriftsteller Ernst Feydeau u. s. w.

Bei Hiller als Gast wohnte Berthold Auerbach. Er hatte eben, nachdem seine früheren Romane fast unbeachtet vorübergegangen, mit der ersten Sammlung seiner Schwarzwälder Dorfgeschichten einen großen Erfolg erlebt. Man verdankte ihm die Mahnung, daß in der einfachen Heimatswelt, in dem anspruchslosen Menschenthume eine sittlich erhebende Kraft ruhe. Nun hatte er seine Novellen „die Sträflinge“ und „die Frau Professorin“ geschrieben, und arbeitete damals an einer Schrift „Schrift und Volk“. Seine Kompositionsweise war eine auffallend musivische. Auf den weiten Spaziergängen, die wir in die Umgebung Dresdens unternahmen, trug er beständig ein Büchlein mit sich, in welchem er sofort jeden sich ihm aus der Debatte ergebenden Gedanken fixierte. Aus seinen und empfundenen Bemerkungen wurde so allmälig ein Buch.

Eines Tages wurden in Hillers‘ Salon einige vierzig oder fünfzig Stühle aufgestellt, Einladungen waren nach allen Seiten ergangen, Auerbach sollte seine „Frau Professorin“ vorlesen. So lernten wir das Lorle kennen, das vollendetste Porträt, das er je gemalt, seine vollkommenste Schöpfung, lebendig, wahr in allen Zügen, rührend, bezaubernd, theilweise – z. B. im Abschied Lorle’s von tragischer Größe. Nicht zu seinem Vortheile hat Berthold Auerbach später seine Form zu erweitern gesucht. Seine Stärke lag nicht in der Komposition, sondern in der rührend einfachen, schlichten und väterlichen Weise zu erzählen. Er beeinträchtigte selbst seine edelsten Eigenschaften, wenn er ausgebildeter Technik nachtrachtete. Seine Muse selbst war jenes Lorle, welches in der Stadt seinen Reiz einbüßte.

Wieder einmal hieß es, Robert Schumann sei aus Leipzig zu Besuch in Dresden angekommen. „Nun, das ist schön, daß Du da bist,“ hatte Hiller beim Wiedersehen lachend zu ihm gesagt. „Da werden wir uns tüchtig ausschweigen können.“ Mir, der seit den Knabenjahren die tiefste Bewunderung und Verehrung für Schumann im Herzen trug, schien der Scherz pietätlos. Indeß lernte ich bald das merkwürdige Insichgekehrtsein des Meisters kennen. Er war der größte Schweiger, sei’s, daß der Gegenstand der meisten Reden ihm zu unbedeutend schien, oder daß ihm, der doch auch so glänzend zu schreiben verstand, der hergebrachte Ausdruck nicht genügte. In Hiller’s Salon, im Schwarme der Besuchenden, versteckte er sich wohl einen ganzen Abend ohne zehn Worte zu sprechen. Ich erinnere mich auch einer Kahnfahrt auf der Elbe, bei der die Frauen Lieder von ihm sangen, er aber schweigend, dann und wann mit zugespitzten Lippen vor sich hinsummend, stumm am Steuer saß und in das Abendroth hinausstarrte. Er lebte nur in sich und in der wunderbar tönenden Welt, die er in sich trug.

Im Auftrag der Projektleitung des Schumann-Netzwerks digital für das Schumannportal erfasst von Petra Sonntag, StadtMuseum Bonn, Februar 2013 aus: Alfred Meißner: Geschichte meines Lebens, I. Band, 3. unveränderte Auflage, Wien und Teschen: Verlag der k.k. Hofbuchhandlung Karl Prochaska, 1884, S. 164 ff.