"Mit tausend Küssen Deine Fillu."

Briefe der Sängerin Marie Fillunger an Eugenie Schumann 1875-93.
Herausgegeben von Eva Rieger unter Mitarbeit von Rosemary Hilmar,
Köln: Dittrich Verlag 2002, 368 S., € 28

Rezension von Birgit Kiupel, Hamburg
Erschienen in Invertito 5 (2003)

"Ich freue mich dass Brahms so nett spricht über mich, wie ein Mann denkt über ein solches Verhältniß ist mir stets wichtiger als ich sagen kann, und nun gar Brahms", schreibt die Sopranistin Marie Fillunger (1850-1930) am 21. März 1890 in London an ihre Freundin und Lebensgefährtin Eugenie Schumann (1851-1938). Johannes Brahms (1833-1897) spielte eine wichtige Rolle im Leben der beiden Frauen: Er war Förderer von Marie Fillungers Karriere und ein Freund der Familie Schumann. Sein Urteil, insbesondere in musikalischen Fragen, war gefragt - und über Frauen gelegentlich patriarchal getrübt.

Die von Eva Rieger und Rosemary Hilmar herausgegebene Briefsammlung ermöglicht neue Perspektiven auf vermeintlich alte Bekannte der Musikgeschichte - auch im Hinblick auf ihre Vorstellungen von Geschlechterrollen und gleichgeschlechtlicher Liebe, die bisher von der Forschung meist unterdrückt, übergangen oder negiert wurden. (Die Spekulationen über Brahms sexuelle Orientierung bleiben hier ausgeklammert.) Denn was bisher niemand in der Klavierstunde lernte oder kaum in populären Werken über den "Schumann-Clan" stand: Eugenie Schumann, siebtes Kind von Robert (1810-1856) und Clara Schumann (1819-1896), lebte 55 Jahre lang in einer Liebesbeziehung mit einer Frau, der Sängerin Marie Fillunger, die aus einer kinderreichen Familie in Wien stammte und "Fillu" genannt wurde.

1874 schrieb sich "Fillu" - auf Empfehlung von Johannes Brahms - an der Musikhochschule in Berlin ein. Auch stellte Brahms den Kontakt zu der verwitweten Clara Schumann und ihren Töchtern Marie und Eugenie her. "Fillu" kam, verliebte sich in Eugenie Schumann - und blieb. Als Clara Schumann dann 1879 eine Stelle an "Dr. Hoch's Conservatorium", einer Hochschule "für alle Zweige der Tonkunst", in Frankfurt am Main annahm, verschaffte sie dort auch ihren musikalisch ausgebildeten Töchtern Marie (1841-1929) und Eugenie Assistentinnenstellen. Marie Fillunger, die nun fast zum Haushalt dazugehörte und mit umzog, bekam im Haus der Schumanns in der Myliusstraße 32 ein Zimmer - direkt neben Eugenies. Sie machte sich nützlich, übernahm für die vielbeschäftigte Clara Schumann auch Sekretariatsarbeiten. Doch die innige Beziehung zwischen Eugenie und "Fillu" sorgte schließlich für Eifersucht und Spannungen mit Marie und Clara Schumann. Es kam zum Eklat und im Januar 1889 verließ "Fillu" Frankfurt schweren Herzens in Richtung London. Dort machte sie Karriere als Konzertsängerin, mit Liedern und Oratorien bestritt sie ihren Lebensunterhalt und erwarb Ansehen und ein kleines Vermögen. Zwischen 1904 und 1912 hatte sie eine Professur für Gesang am Royal College of Music in Manchester inne. Trotz dieser beeindruckenden Biographie taucht ihr Name jedoch in der offiziellen Musikgeschichtsschreibung kaum auf.

Die räumliche Ferne scheint in dem regen Briefwechsel zwischen "Fillu" und Eugenie aufgehoben. Endlich, nach rund drei Jahren, lebten beide wieder zusammen, denn Eugenie zog aus der Wohngemeinschaft mit Mutter und Schwester Marie aus und siedelte zu "Fillu" nach London über. Eugenie, die begabte Pianistin und Assistentin ihrer Mutter, die aber wegen Lampenfieber keine Karriere als konzertierende Musikerin anstrebte, hatte auf die (räumliche) Trennung von "Fillu" mit Niedergeschlagenheit, körperlicher Schwäche und Krankheit reagiert - genas dann aber schnell in Marie Fillungers Gegenwart, was wohl nur Clara Schumann erstaunte. Eine Romanze, eine Liebe, die auch den Stoff liefern könnte zu einem Musik- und Historienfilm über Frauenliebe im Zeichen bürgerlicher "Hochkultur." In jedem Fall eine Fundgrube für kultur- und musikwissenschaftliche Forschungen.

Ausgegraben und wieder zugänglich gemacht hat diese Geschichte Eva Rieger, hochproduktive Pionierin der Forschung zum Schaffen von Musikerinnen und Komponistinnen - und emeritierte Professorin für Musikgeschichte und Musikdidaktik. Um nur einige ihrer Werke zu nennen: ihre bahnbrechende Studie Frauen, Musik und Männerherrschaft; Nannerl Mozart, die Biographie von Maria Anna Mozart, der fünf Jahre älteren Schwester von Wolfgang Amadeus, die Herausgabe von Ethel Smyths Erinnerungen Ein stürmischer Winter oder, jüngst erschienen: Minna und Richard Wagner. Stationen einer Liebe. Wissenschaftliche Arbeit und frauen-kultur-politisches Engagement sind für Eva Rieger Bereiche, die sich selbstverständlich kombinieren lassen.

Mit tausend Küssen Deine Fillu ist auch ein Ergebnis von Wissenschaft in einem weiblich geprägten Netzwerk. Zusammen mit engagierten Wissenschaftlerinnen und Freundinnen (wie etwa Rosemary Hilmar von der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien) hat Eva Rieger eine Auswahl aus den rund 800 Briefen Marie Fillungers aus den Jahren 1875-93 nach dem Prinzip "Clear text" ediert, d.h. sie wurden möglichst in ihrem Originalzustand belassen. Und mit Kommentaren und Einführungskapiteln versehen - damit sich niemand verliert in den Hotels, Konzertsälen und Salons zwischen Melbourne, Haag und Frauenfeld. Der Band beinhaltet zahlreiches Bildmaterial und ist sehr liebevoll ausgestattet und gestaltet. Das Verzeichnis der von Marie Fillunger aufgeführten Werke regt zu Gedächtniskonzerten mit Lesungen an - mit Kompositionen von Ludwig van Beethoven, Ferdinand Hiller, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hubert Parry, Franz Schubert, Clara Schumann, Robert Schumann und Arthur Sullivan.

Für "Mein liebes Genchen, mein Esi, mein kleiner Egoist," wie "Fillu" Eugenie anredet, (leider wurde diese Palette der Zärtlichkeiten samt Schlussfloskeln weggelassen und nur in den Anmerkungen zur Edition erwähnt) entfaltete "Fillu" einen packenden Einblick in den damaligen Konzertbetrieb, berichtete über die Kämpfe um Auftritte und Honorierung, über Tourneealltag, Probenstress und Anerkennung. Eugenie Schumanns Perspektive erfahren wir jedoch nicht, denn sie hat ihre Briefe wohl nach Fillus Tod vernichtet. Doch die Schreiben ihrer Freundin bewahrte Eugenie zum größten Teil auf - und nach ihrem Tod gelangten sie dann durch eine Bekannte an die Österreichische Nationalbibliothek.

Aber auch an Reflektionen über ihr Leben als Sängerin, als einer "Gesangsmaschine", wie Fillunger schreibt, lässt sie die Freundin teilhaben. Und kommentiert auch nach-hörbar die Stimmen anderer Sängerinnen. Die Stimme ist ihr Kapital, ihr Instrument, auch Künderin ihrer Liebe und Befindlichkeit, wie sie am 21. November 1889 in Manchester gesteht: "Nun weiß ich nichts mehr als dass ich dich lieb habe und oft namenlose Sehnsucht habe nach Dir besonders beim Singen. Ob das die Erfolge herbeiführt?" (Leider gibt es keine Aufnahmen von ihrer Stimme.)

Alles ist mit viel Witz, Biss und Tempo beschrieben. Ihre Urteile über Richard Wagners Musik liefern bis heute Argumentationshilfen - etwa am 18. Juni 1889 aus London: "Die Walküre ist in allen Theilen eine sympatische Gestalt und sie ist die einzig anständige von der ganzen Nibellungen-Bande Götter und Helden zusammen genommen." Über Tristan und Isolde lautet der Kommentar am 31. Oktober 1889: "Ich bin sehr angespannt mit der Isolde obwohl das Stück kurz ist so sind doch einige echte Wagner Scheußlichkeiten drin die noch überdies recht schwer sind, wir sind aber (Miß Wild und ich) heute schon recht zufrieden gewesen und will das Stück singen als ob ich ein hart gesottener Wagnerianer wäre."

Marie Fillunger bewies Diplomatie, Geschick und großes Können - ob nun im Konzertsaal oder beim Privatkonzert vor Prinzessin Helena Victoria, Tochter von Königin Victoria, in Cumberland Lodge in Windsor Park und ihren beiden Töchtern; Emily Loch, eine Hofdame der Prinzessin hat Marie Fillunger, wie sie am 14. Juni 1889 aus London schreibt: "Hoffnung gemacht, die älteste (der Prinzessinnen) als Schülerin zu bekommen, sie ist eben 17 Jahre. Das sollte Dir wol gefallen! Hübsch sind diese königlichen Hoheiten alle nicht und anziehen thuen sie sich auch recht schlecht. Die gehen alle, auch die Hofdame Frl. von Eglofstein in Katunblousen mit wollenen Röcken."

Dabei sah sich Marie Fillunger keineswegs als Propagandistin von Komponistinnen. Sie hielt sich, wie Eva Rieger feststellen muss: "hauptsächlich an die großen Namen Brahms, Schumann, Mendelssohn, und befürchtete wohl, eine andere Liedwahl würde ihrer Karriere schaden." Sie scheint eher das Schaffen von Männern geschätzt zu haben, auch im literarischen Bereich, wie einzelne recht abfällige Kommentare belegen, und hat kaum etwas von den zeitgenössischen Komponistinnen gesungen. Einzige Ausnahme: die Lieder der Sängerin und Komponistin Louise Héritte-Viardot (1841-1918), aber die wohl auch nur aus Gefälligkeit, weil sich beide aus Frankfurt kannten. Auch mit der spitzfedrigen und frauenbewegten Ethel Smyth (1858-1944) gab es keine engeren Kontakte. Bei der Uraufführung von Ethel Smyths Messe hat sie sich nicht besonders engagiert, wohl aus privaten Animositäten.

Dieser Briefwechsel eröffnet auch neue Perspektiven auf die Bedeutung von Schwärmereien, Verliebtheiten beim Training kultureller Techniken, wie Musikunterricht etc. So war "Fillu" vor ihrer Bekanntschaft mit Eugenie in die Pianistin Elisabeth "Lisl" Herzogenberg (1847-1892) verliebt, die Gattin des Komponisten Heinrich Herzogenberg (1843-1900), die es später auch Ethel Smyth angetan hatte. Auch weniger vorteilhafte Aspekte von Marie Fillungers geistigem Horizont werden von Eva Rieger nicht ausgeklammert, wie etwa "Fillus" gelegentliche anti-semitische Urteile, die damals in ihrem Umfeld nicht außergewöhnlich waren.

Dieser Band wird auch diejenigen interessieren, die der musikalischen Szene um Clara und Robert Schumann, Richard Wagner, Johannes Brahms bisher nur wenig abgewinnen konnten: handelt es sich doch hier um eines der wenigen überlieferten Beispiele gelebter Frauenliebe, trotz aller Widrigkeiten. Denn Marie Fillunger und Eugenie Schumann blieben sich "im Punkte der Verliebung", wie "Fillu" es formulierte, trotz jahrelanger Fernbeziehung, treu. Zwar gab es für beide heftige Flirts und auch männliche Verehrer, die aber die Beziehung der beiden selbst nie ernsthaft gefährdeten. Die Veröffentlichung bietet auch einen Fundus für Studien zu Ausdruck und Praxis weiblichen Begehrens. So schreibt "Fillu" am 11. Juli 1875: "Erinnerst Du Dich wie ich die ersten Tage unseres Zusammenseins schüchtern um Deine Liebe warb, ich weiß genau dass ich das erste Mal wagte Dir mit der Hand über die linke Schläfe und Wange zu fahren und die Freude die ich empfand als Du Dich dieser Liebkosung nicht entzogst, seither hab ich mich an Deinen Küssen satt und durstig getrunken und dieser Durst brennt mir nun in tiefster Seele, der Brand wird nicht erlöschen bis Deine Lippen mich berühren und wird bei all den elementaren Störungen des mir nun bevorstehenden bewegten Lebens durchbrechen." Wie haben gesellschaftliche Leitbilder von Weiblichkeit und medizinische Diskurse über Sexualität und Homosexualität nun tatsächlich die Liebeswirklichkeit von Frauen bürgerlicher Schichten beeinflusst? Dazu bietet Eva Rieger einen knappen Überblick über bisherige Forschungen, der Impulse geben sollte zu weiteren Studien - wie etwa der Relektüre von Sigmund Freud im Hinblick auf die Liebe von Frau zu Frau.

Eines aber scheint sicher: Liebe und Freundschaft zwischen Frauen war Ende des 19. Jahrhunderts durchaus ein Thema in der bürgerlichen Gesellschaft, und "Fillu" wusste genau zu unterscheiden zwischen den Bekannten und Freunden, die sich ihrer Liebe gegenüber offen oder abwehrend verhielten. Auch ihre eigene Mutter reagierte verständnislos, wie Fillu am 14.4.1877 schreibt: "Ich kann nicht an mein Genchen schreiben wenn mir jemand gegenübersitzt, der meine Liebe zu Dir niemals verstehen könnte und ich mir denken muß wenn sie meine Briefe lesen würde, müsste sie sich darin nicht zurechtfinden oder sie übertrieben finden." Doch es gab offensichtlich auch Lern- bzw. Gewöhnungsprozesse. So akzeptierte selbst Johannes Brahms nach einiger Zeit, in der er auch mit taktlosen Bemerkungen nicht gespart hatte, diese Beziehung auf seine Weise. Ende Dezember 1889 empfahl er Clara Schumann, dass "Frl. Eugenie und Fillu in Kompagnie" das hübsche zu verkaufende Häuschen des Ehepaares Herzogenberg in Berchtesgaden "kaufen und bewohnen" könnten. Clara Schumann ging auf diesen Vorschlag nicht ein. Ohnehin liefert sie ein interessantes Beispiel für die ambivalente Rolle von Müttern bei Frauenpaaren. In Briefen an ihre Freundin Emilie List schreibt Clara Schumann abwehrend über Marie Fillunger, z.B. am 3. März 1889: "Eugenie verlangte, dass wir sie wie ein zu uns gehöriges Glied betrachten sollten, u. das ging nicht, geht wohl überhaupt nie mit einer Fremden, am allerwenigsten, wenn sie einem so unsympathisch ist."

Es ist ein damals wie heute nur schwer zu analysierendes Geflecht aus Liebe, Macht und Eifersucht - im Dienst der Kunst: die enge Bindung zwischen Clara Schumann und den Töchtern Marie und Eugenie, die als unverheiratete Frauen bei ihr lebten und ihre Arbeitskraft in den Dienst der berühmten und unermüdlich um den Lebensunterhalt kämpfenden Pianistin und Lehrerin stellten. So war selbst für Marie Fillunger der Anlass für den großen Bruch zwischen ihr und Clara Schumann 1889 nicht zu verstehen - erst Jahre später näherten sich "Fillu" und Clara Schumann wieder an, schrieben und besuchten sich gelegentlich. Zwar schreibt "Fillu" immer respektvoll von Clara als "Mama", versucht sich aber gegen sie zu behaupten und sieht sie durchaus kritisch, wie am 29. April 1889: "Freilich ist Mama daran gewöhnt von Schmeichlern umgeben zu sein, aber zu denen habe ich nie gehört, und so wie ein gekröntes Haupt nie die Wahrheit ertragen kann, so kann es auch Mama nicht und braucht es auch wegen mir nicht zu lernen." Clara Schumanns Verhalten erscheint hier sehr ambivalent - die künstlerischen Qualitäten der "Fillu" hat sie zwar sehr geschätzt, sicher auch beeinflusst durch Johannes Brahms, und ihr wertvolle Kontakte vermittelt - aber echte Zuneigung, gar Verständnis für die Qualität der Beziehung der beiden Frauen hat sie nicht entwickelt. Geschweige denn sie als "Schwiegertochter" in die Familie aufgenommen.

Eva Rieger, ihre Freundinnen und Kolleginnen haben in mehrfacher Hinsicht die Erinnerung an diese Liebes-, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft bewahrt. Das Grab von Eugenie, "Fillu" und Marie befindet sich auf dem Gsteig-Friedhof in dem kleinen Ort Wilderswil bei Interlaken: "Da Eugenie als letzte starb, entschied sie über die Grabinschrift. Am Fuß des Grabsteins war 1998 ein kleiner Stein platziert, auf dem lediglich der Name "Marie Fillunger" stand. Im Nachlass Eugenie Schumanns, der in Bonn aufbewahrt wird, befindet sich jedoch ein Foto, das eindeutig einen größeren Stein zeigt und erkennen lässt, dass dieser Stein Fillus Lebensdaten trug sowie das Wort "geliebte": Eugenie hatte somit einen würdigen Grabstein auf das Grab legen und das Geburts- und Sterbedatum eingravieren lassen, und sich nicht gescheut auf ihre Liebe zu Fillu öffentlich hinzuweisen. Wer entfernte den markanten Stein und ließ ihn durch einen kleinen ersetzen, der lediglich Fillus Namen trug? Wer hatte ein Interesse daran die Beziehung zur Familie Schumann zu vertuschen?" Eva Rieger hat zwar bislang noch keine Antwort auf diese Frage gefunden - aber, zusammen mit ihrer mittlerweile verstorbenen Partnerin, für eine gebührende Gravur auf dem Grabstein gesorgt: mit Marie Fillungers Lebensdaten.