Eine neu entdeckte Notenhandschrift Robert Schumanns in Überlingen

Bericht von Irmgard Knechtges-Obrecht


„An die 30 kleine putzige Dinger“ für Klavier kündigte Robert Schumann seiner Braut Clara Wieck im März 1838 an, von denen er „zwölf ausgelesen und 'Kinderscenen' genannt habe“. Letztlich waren es 13 Stücke, die Schumann ein Jahr später bei Breitkopf & Härtel in Leipzig als Kinderszenen op. 15 veröffentlichte. Die übrigen Stücke jedoch konnten bisher weder ausfindig gemacht noch eindeutig identifiziert werden.

Nun aber führte der Zufall zu einem ebenso unerwarteten wie sensationellen Fund. Bei der Erfassung und Neu-Katalogisierung des Nachlasses von Leo Allgeyer (1827-1891) stieß die Leiterin der Leopold-Sophien-Bibliothek in Überlingen auf ein Notenblatt, das sich nach eingehender Prüfung durch Dr.
Armin Brinzing (Leiter der RISM-Arbeitsstelle München) und Dr. Michael Beiche (Robert-Schumann-Forschungsstelle Düsseldorf) Ende September 2008 zweifelsfrei als ein Autograph Robert Schumanns erwies.

Das Notenblatt zeigt ein in sich abgeschlossenes, 24 Takte umfassendes Klavierstück mit dem Titel „Ahnung“. Offenbar handelt es sich um eine  Reinschrift des Komponisten, in die er mehrere Korrekturen duch Rasuren und Streichungen einbrachte. Die Authentizität wird durch Clara Schumanns
Vermerk „Robert Schumanns Handschrift“ bestätigt. Außerdem ergänzte sie die Tempoangabe „Langsam“. Die Existenz dieser Komposition war bis jetzt vollkommen unbekannt. Nach Einschätzung der Fachleute gehört das Stück wohl zu jenen von Schumann beschriebenen „Dingern“. Zusätzlich belegt wird diese Annahme dadurch, dass sich das kompositorische Material dieses Stückes in der Novellette op. 21 Nr. 5 in D-Dur wiederfindet, wo Schumann es in einen vollkommen neuen Kontext stellt. Die Stücke der Novelletten entstanden im Frühjahr 1838 zeitgleich mit jenen aus den Kinderszenen, die zunächst als Anhang dieser Sammlung geplant waren, bis sie sich schließlich zu einem eigenständigen Opus emanzipierten. Das werkgenetische Verhältnis beider Kompositionen zueinander ist deshalb eindeutig, weil Schumann in „Ahnung“ Korrekturen der ursprünglichen Textschicht angebracht hat und diese veränderte Fassung mit jener in op. 21 Nr. 5 übereinstimmt.

Es handelt sich bei diesem Notenblatt um die erste Neuentdeckung eines unbekannten Schumann-Stückes seit etlichen Jahrzehnten, das zudem überaus
interessante Einblicke in Schumanns Schaffenszeit und seine kompositorische Werkstatt der 1830er Jahre liefert. Clara Schumann versah das Manuskript mit einer Widmung an den befreundeten Lithographen, Photographen und Schriftsteller Julius Allgeyer (1829-1900) „mit dem Wunsche, daß immer sanfte Töne ihn begleiten mögen“ und der Datierung „Düsseldorf, d.[en] 7. October [18]56“. Allgeyer trat am 13. Oktober 1856 eine Reise nach Rom an, wofür er ein Stipendium erhalten hatte. Dass Clara ihm ein derart wertvolles Geschenk mitgab, muss als hoher Freundschaftsbeweis gelten.

Kennengelernt hatte sie Allgeyer 1854 in Düsseldorf, als er dort für einige Zeit an der Kunstakademie studierte. In Karlruhe, wo Julius mit seinem Bruder Leo von 1861 bis 1871 ein renommiertes fotografisches Atelier führte, und in Clara Schumanns Sommerresidenz in Lichtenthal bei Baden-Baden vertiefte sich der freundschaftliche Kontakt, in den auch Johannes Brahms, der Maler Anselm Feuerbach sowie der Dirigent Hermann Levi eingebunden waren. Seit 1898 arbeitete Julius Allgeyer im Auftrag der ältesten Schumanntochter Marie an einer Biographie Clara Schumanns. Das bei seinem Tod 1900 unvollendete Manuskript gilt heute als verschollen.

Die Brüder Allgeyer waren in Überlingen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach 1873 bis zu seinem Tode 1891 lebte Leo Allgeyer dort als
Privatier. Hauptsächlich betätigte er sich als Kunstsammler und -händler und gilt unter anderem als Wegbereiter des Städtischen Museums Überlingen. Der 1832 neu gegründeten und heute als eine der bedeutendsten Bibliotheken im Bodenseeraum geltenden Leopold-Sophien-Bibliothek schenkte er nach 1861 wiederholt Bücher, Stiche und Fotografien sowie 1888 schließlich jene Mappe, in der sich das Schumann-Autograph befindet.

Am 23. April 2009 wurde das Notenblatt bei einer Pressekonferenz im Festsaal des Städtischen Museums Überlingen exklusiv vorgestellt. Zurzeit wird
es faksimiliert und der wissenschaftlichen Bearbeitung zugeführt. Am 20. September 2009 wird das Klavierstück im Rahmen eines Konzertes im Kursaal
Überlingen uraufgeführt. Erst im Schumannjahr 2010 bietet sich Gelegenheit, das Autograph im Original zu sehen, wenn es den Mittelpunkt von
Ausstellungen in Überlingen (April bis Oktober 2010) und Düsseldorf (24.-26. September 2010) bildet.
(Irmgard Knechtges-Obrecht)