Die Symphonie zwischen Schumann und Brahms.

Die Musikforschung
61. Jahrgang 2008, Heft 1, Januar – März, Seite 96-97

MATTHIAS FALKE: Die Symphonie zwischen Schumann und Brahms.
Studien zu Max Bruch und Robert Volkmann. Berlin: Verlag Ernst Kuhn 2006. 343 S., Nbsp. (musicologica berolinensia. Band 14.)

Die Komposition von Symphonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht nach wie vor unter der Dahlhaus’schen These einer „toten Zeit“ zwischen 1850 und 1870, in der keine Symphonien „von Rang“ entstanden seien, und der damit verbundenen Rezeptionsprobleme der Gattungsbeiträge Ludwig van Beethovens, die wiederum exemplarisch im langen Entstehungsprozess der Ersten Symphonie von Johannes Brahms zum Ausdruck kommen. Nun hat es in den letzten Jahren an Diskussionen zu dieser Thematik wahrlich nicht gemangelt, wenngleich eine abschließende Auseinandersetzung – wenn es den so etwas überhaupt geben kann – bislang tatsächlich aussteht. Matthias Falke will mit seiner Untersuchung zweier exemplarischer Werke aus dieser nach wie vor komplexen Epoche einen analytisch-praktischen, vor allem aber methodischen Beitrag liefern. Das Kapitel über die Symphonien Max Bruchs entspricht dabei der an der Universität Karlsruhe eingereichten Magister-Arbeit des Verfassers (1996) und wurde für den Druck offenbar nicht konsequent überarbeitet. Der Teil über Robert Volkmanns Erste Symphonie entstammt einer nicht abgeschlossenen Dissertation an der Universität Freiburg im Breisgau. Nun ist gar nichts dagegen einzuwenden, wenn die beiden thematisch durchaus verwandten Bereiche für eine Buchpublikation aufbereitet werden. Jedoch hätte ein wenig Sorgfalt bei der Überarbeitung des ersten Textes nicht geschadet. So wird eingangs (S. 15 f.) noch von der „Arbeit“ gesprochen, offenbar ein Überbleibsel aus der ehemaligen Textgestalt – nur ein kleiner Flüchtigkeitsfehler, aber ein bezeichnender. Bezeichnend nämlich insofern, als sich in diesem Teil noch Formulierungen auffinden lassen, die den Kenntnisstand des Autors zum Zeitpunkt der Anfertigung seiner Magisterarbeit widerspiegeln – was durchaus nicht sein müsste, wie später entstandene Teile zeigen, die auch eine weitaus differenziertere Sicht auf die Dinge offenbaren. Hier aber finden sich pauschale Beurteilungen wie „Vorgaben der Klassik“ in der Orchesterbesetzung (S. 22), Fragen nach dem in der Zeit längst obsoleten „Themendualismus“ in der Sonatenform (S. 29), Behauptungen ohne jeden Nachweis, z. B. zum langsamen Satz der Zweiten Symphonie Max Bruchs und seiner Gestaltung in der Sonatenhauptsatzform, die „als eintönig und ermüdend empfunden [worden sei]“ (S. 65), unnötige Belehrungen („Es lohnt sich jedenfalls, Zitate hin und wieder auch zu verifizieren“, S. 72) und die Tatsache, dass zeitgenössisches Schrifttum nicht aus der Zeit heraus interpretiert (also als entsprechende Quelle), sondern neuerer Literatur unterschiedslos an die Seite gestellt wird (z. B. von Alfred Kalischer, 1890 [S. 87], der dann später [S. 100] abgeurteilt wird). Letzten Endes offenbar sich hier ein unzureichendes Problembewusstsein, wenn etwa eine „musikgeschichtliche Optik“ suggeriert wird, „die immer und weitgehend ausschließlich auf Beethoven ausgerichtet ist“ (S. 96) oder Falke Quellen relativ hemmungslos zitiert und kommentarlos hinstellt, wie z. B. Walter Niemann (1913): „Bruch […] bewahrt sein rheinisches Blut und die weiche Empfindung seiner Rasse vor akademischer Trockenheit“ (S. 113).

Von differenzierterer Urteilsfähigkeit zeugt hingegen die Diskussion über Max Bruch und das „Zweite Zeitalter der Symphonie“ (Carl Dahlhaus). Falke ist wahrhaftig nicht der Erste, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt, aber er fragt mit Recht, „was als musikgeschichtlicher Rang anzusehen sei“ (S. 121). Lobenswert ist, dass er nicht rein statistische Befunde zur Widerlegung der These gelten lassen will, sondern nach der Stellung des Werks im zeitgenössischen Musikleben, seinem (davon weitgehend unabhängigen) ästhetischen Rang und seiner Wirkung fragen will (S. 122). Zu deren Beantwortung trägt er dann freilich nicht bei, da er sich unmittelbar erneut dem Komplex der „wahren“ Beethoven-Nachfolge als Rezeptionsproblem späterer Zeit widmet (S. 122). Von einer „Verzerrung der Optik“ ist die Rede, „die weiten Bereichen der Musikgeschichte zwischen Schubert und Mahler nicht mehr gerecht wird“ (S. 123).

Die Besprechung der Symphonik Volkmanns folgt der Praxis des ersten Teils: Eine ausführliche Ablaufbeschreibung dient als Grundlage für eine Interpretation des Formaufbaus. Von der Methodik her wird somit über den Stand der Magisterarbeit nicht hinausgegangen. Und auch hier stellt sich erneut die Frage, was Falke gemeint haben mag, wenn er sich klischeehafter Aussagen bedient, die er bei anderen mit Recht kritisiert, wie z. B. „opernhafte Spannung“ (S. 166), „Zeitalter des Anspruchs unbedingter Originalität“ (S. 266) oder „der einmalige musikalische Reichtum des 19. Jahrhunderts, das individuellere Lösungen zuließ als der Barock oder noch die Klassik, aber in seiner Ästhetik noch verbindlicher war als das pluralistische 20. Jahrhundert“ (S. 295). Bei allen eigenen Pauschalismen dieser Art geht Falke mit den Fachvertretern nicht eben zimperlich um: Als „Sackgasse Statistik“ wird ein ganzes Kapitel überschrieben, Carl Dahlhaus’ Schriften bezeichnet er kurzerhand „in wesentlichen Teilen als überholt“ (S. 299), und schließlich wird unter dem programmatischen Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ (S. 300) eine differenzierte Analyse des Repertoires gefordert, die sich jeglicher Gattungszugehörigkeit enthalten soll („Es gibt aber keine Gattungen, nur Werke“, S. 301).

In einem abschließenden Kapitel entwirft Falke sodann „Ideen und Thesen zu einer phänomenologischen Musik-Ästhetik und musikalischen Hermeneutik“, deren Gültigkeit in ihren einzelnen Facetten (Phänomen – Substanz – Plausibilität – Funktion – Gattung – Genie – Werk – Rang – Intentionalität – Erlebnis – Methode) unbestritten sein soll, die aber im Ganzen aus den vorausgegangenen Analysen nicht hervorgehen geschweige denn durch sie gerechtfertigt würden. Auf das Desiderat einer zeit-, ideengeschichtlichen und analytischen Beschäftigung mit den zahlreichen Werken hinzuweisen, ist dabei ein nicht geringes Verdienst, das der Arbeit zuzugestehen ist.

(April 2007) Manuel Gervink