Robert Schumann Kinderszenen Op. 15

Die Tonkunst
Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft
Januar 2008, Nr. 1, Jg. 2, Seite 104-105

Ernst Herttrich (Hg.): Robert Schumann Kinderszenen Op. 15
Fingersatz von Walther Lampe, München (Henle) 2007


Die »Kinderszenen« als Auswahl aus »an die 30 kleine[n] putzige[n] Dinger[n]« (Schumann) verloren mit ihrer Zusammenstellung zu zwölf Stücken und einem Epilog 1838 jede »Putzigkeit« und gehören seit langem auch für die größten Pianisten zur wesentlichen Konzertliteratur. Dieser Zyklus, dem unterstützt durch ein B-A-C-H-Zitat gleich zu Beginn des ersten Stückes eine Anlehnung an Bachs Klavierzyklen nicht fern zu sein scheint, trägt in seinem Zentrum jenes, als erstes in einer B-Tonart gesetzte »kleine Ding ›Träumerei‹« (Schumann), das bleibenden Ruhm nicht nur als unsterblicher Publikumsliebling, sondern ebenso als prominenter Zankapfel zwischen Alban Berg und Hans Pfitzner erlangte. Wollte 1920 der eine über eine analytische Begrifflichkeit zum Verstehen kommen, mochte der andere in »mutig[em] Schwärmen« nur seufzen: »Wie schön!« Sicher, in dieser Auseinandersetzung darf Schumann vor allem als Objekt eines quasi weltanschaulichen Kräftemessens darüber gelten, ob über musikalische Qualität »in musiktheoretischer Hinsicht Rechenschaft zu geben« ist – »und das in möglichst präziser, lückenloser Weise« (Berg) oder ob man musikalisches Verstehen vor allem im Bewusstsein eines »Wunders« und »Zaubers« nur in »einer kleinen Gruppe« noch nicht »dieser Schönheit entwöhnt[er]«, intuitiv »Wissende[r]« erfahren kann. Hier eine durch Systematisierung verwissenschaftlichte musikalische Hermeneutik, dort eine geradezu anthroposophische Hermetik: Echtes Verstehen ist nur dem Eingeweihten vergönnt. Gleichzeitig ist sein Verstehen durch den Nicht-Eingeweihten logischerweise nicht hinterfragbar, während einen Eingeweihten in ebenso logischer Konsequenz gar nicht das Bedürfnis des Hinterfragens anfechten kann.

Wenn Ernst Herttrich die Kinderszenen bei Henle neu herausgibt, dann wohl nicht, um nur weitere Gelegenheit zum Schwärmen zu geben, sondern in der Absicht, den Notentext einer noch differenzierteren Analyse und damit verbundenem vertieftem Verständnis zugänglich zu machen. Es fällt zunächst auf, was gegenüber der letzten Ausgabe unverändert bleibt. So wurde der Fingersatz von Walther Lampe aus der Ausgabe von Wolfgang Boetticher, Henle 1977, übernommen, was sicher keinen Nachteil bedeutet. Sieht man daraufhin den ganzen Druck durch, so ergibt sich die ebenfalls identische Übernahme des Satzes hinsichtlich der Noten bzw. Pausen der alten Ausgabe. Darüber hinaus gibt es einige wenige eher graphiklogische Veränderungen bzw. Vereinheitlichungen. Über einige eingeklammerte doppelte Halsungen, die zuvor uneingeklammert standen oder nun hinzugefügt wurden (so Nr. 11, T. 2 in Parallele zu T. 15) bestand auch zuvor implizit kein Zweifel. Zudem finden sich Legatobögen ohne Veränderung der zuvor durch die Gesamterscheinung bereits nahe gelegten Bedeutung verlängert (so Nr. 2, T. 19, Nr. 4, T. 2). Ritardando-Angaben wurden ohne Veränderung des Gültigkeitsraumes umformatiert. Einige eingeklammerte Artikulationszeichen wurden unkommentiert hinzugefügt (so Staccato auf Sechzehntel in T. 1 und analoge Takte in Nr. 11). Ebenfalls unkommentiert wurde das zweitaktige Decrescendo zu Beginn von »Kind im Einschlummern« von T. 3 auf T. 2 vorgezogen.

Der abschließende knappe Kritische Bericht (Bemerkungen) stützt sich auf folgende Quellen: Autographe zu Nr. 1 (A1) und Nr. 9 (A2), die Erstausgabe bei Breitkopf & Härtel von 1839 (E1), das von Schumann in Details handschriftlich angemerkte Widmungsexemplar für Franz Liszt dieser Ausgabe (WI.), die korrigierte Auflage der Ausgabe aus dem Nachmonat (E2) sowie Schumanns wiederum handschriftlich angemerktes Handexemplar dieser Ausgabe (HE) – letzteres mit der Funktion der primären Referenz für beide Henle-Ausgaben. Während das Widmungsexemplar als eigenständige Quelle im Layout von der Erstausgabe abgesetzt wurde, findet sich inkonsequenterweise das Handexemplar unter der korrigierten Erstausgabe subsumiert.

Warum Herttrich die Ergänzung eines pp auf dem letzten Achtel in Nr. 5, T. 8, als Konsequenz aus dem Handexemplar wohl erwähnt, sich dieses aber in Klammern lediglich bereits bei Boetticher hinzugefügt findet, während die Neuausgabe es im Notentext wieder streicht, bleibt ein Geheimnis. Die Bemerkungen erwähnen auch ein irrtümlich platziertes Auflösungszeichen in »Wichtige Begebenheit«, das bereits bei Boetticher in T. 13 richtig ergänzt wurde (jedoch ohne die überflüssige Hinzufügung vor der Folgenote d zu tilgen). In dieser resultierenden Dopplung ist es nun auch in der Neuausgabe wieder zu finden.
Am aufschlussreichsten ist der Bericht da, wo er Eigenarten der beiden Autographe herausstellt, die Hinweise auf die intendierte praktische Ausführung geben. So ist es nicht unwichtig, dass die erste Punktierung von »Wichtige Begebenheit« ursprünglich durch eine Sechzehntelpause ersetzt wurde (resultierend also Achtel, Sechzehntelpause, Sechzehntel), was die ›Gewichtigkeit‹ in die Nähe einer ›Zackigkeit‹ überführen könnte. Die ursprüngliche, gegenüber dem gedruckten Text abweichende graphische Vereinigung der Punktierungen in »Von fremden Ländern und Menschen« mit der Position der Sechzehntel jeweils über dem letzten Triolen-Achtel mag einen Hinweis auf eine Ausführung zu Ungunsten des sonst resultierenden Konfliktrhythmus’ geben oder eben, wie in den Bemerkungen vermutet, »auf die flüchtige Niederschrift zurückzuführen sein«. Weiter heißt es lediglich: »Über die Ausführung der Sechzehntel gegenüber den Triolen […] ist eine kontroverse Diskussion entstanden.« Vielleicht hätte man sich eine weiterführende stilistische Reflexion zu diesem Phänomen zu dieser Zeit und bei Schumann gewünscht, nicht zuletzt, weil die praktisch anzutreffenden Ausführungen hier tatsächlich schwanken und zudem gar um die Variante einer faktisch doppelt punktierten Darstellung bereichert werden. Vielleicht ist dies aber auch tatsächlich nicht die Aufgabe des Berichtes. Reizvoll erscheint eine durch chaotische Korrekturanweisungen schwer wägbare Alternativversion des a-Moll-Akkords in T. 20 von »Der Dichter spricht«: Statt des Grundakkords ist im Abgleich unterschiedlicher Korrekturanweisungen offenbar auch ein Sextakkord, entsprechend auf c, denkbar.

Zu erwähnen sind auch drei Fußnoten mit Verweis auf im Widmungsexemplar von Franz Liszt abweichend notierte Tempoangaben (statt der Metronomzahlen in Nr. 4 und 12 die Angabe »Langsam«, in Nr. 13 »Sehr Langsam«). Die Ankündigung der »erstmals aufgenommenen Metronomzahlen aus der zweiten Auflage des Erstdruck« erstaunt insofern, als ausnahmslos alle Metronomzahlen mit der alten Henle-Ausgabe übereinstimmen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass »Curiose Geschichten« und »Am Camin« – dadurch ästhetisch aufgewertet – ihre wieder hergestellten Cs im Titel aufweisen.

Warum nun diese Neuausgabe, die einen solchen Neuigkeitswert wiederum nicht hat? Vielleicht dient sie nicht zuletzt der beginnenden Eliminierung eines Namens im Verlagsprogramm, der spätestens seit Ende der 1990er Jahre kein Werbeträger mehr ist? Wolfgang Boetticher, betont kreativer Teilnehmer an den Raubzügen des »Amtes Rosenberg« und von den Nazis wegen seiner »›wertvolle[n] Mitarbeit‹ am Lexikon der Juden in der Musik, das der schnellsten Ausmerzung aller irrtümlich verbliebenen ›Reste aus unserem Kulur- und Geistesleben‹ dienen sollte« (DIE ZEIT 52/1998), belobigt, ist wohl wirklich kein schmückender Herausgeber mehr – zumal nicht für Schumann, dessen Äußerungen er zu Ungunsten Mendelssohns fälschte. Gibt man allerdings auf der Henle-Seite im Internet den Namen Boetticher ein, erzielt man immer noch knapp 30 Treffer – alle Schumann.

Dort findet man übrigens auch den Kritischen Bericht zur Neuausgabe der »Kinderszenen« als pdf-Datei. Wer die alte Ausgabe bereits hat, wird sie wohl nicht der political correctness opfern, sondern einfach seinen Drucker anwerfen und nach eigenem Ermessen den Bleistift zücken.

[Christoph Kammertöns]