Irmgard Knechtges-Obrecht zu:

Robert Schumann — Neu zu entdecken
Szenen · Arabeske · Balladen · Gesänge – für Klavier
Angelika Nebel, Klavier

Ars Musici, 2006 · AM 1403-2

Einige der beliebtesten Klavierzyklen Robert Schumanns aus früher wie später Klavierperiode paart die Düsseldorfer Pianistin Angelika Nebel auf vorliegender CD unter dem bezeichnenden Titel „Schumann – neu zu entdecken“ mit eher unbekannten, ungewöhnlichen und noch nie eingespielten Werken. So erklingen neben den Kinderszenen op. 15, der Arabeske op. 18,  den Fantasiestücken op. 111 und dem Zyklus Gesänge der Frühe op. 133 die so genannten „Geister-Variationen“ von 1854 sowie die drei Balladen „Schön Hedwig“ op. 106, „Ballade vom Haideknaben“ op. 122 Nr. 1 und „Die Flüchtlinge“ op. 122 Nr. 2 in einer Fassung für Klavier alleine, also ohne Deklamation. Die Düsseldorfer Robert-Schumann-Forschungsstelle unserer RSG war bei dieser ebenso eigenwilligen wie interessanten Programmauswahl behilflich.

Eindrucksvoll lässt sich durch diese Zusammenstellung das immer noch verbreitete Klischee von Schumann als dem „realitätsfernen Träumer“ und „Meister der kleinen Form“ entzerren, wie Michael Struck im sachkundigen, umfangreichen und äußerst informativen Booklettext darlegt. Auf verschiedene Weise vermag Angelika Nebel mit ihrer Einspielung ein wesentlich differenzierteres Bild des Komponisten zu zeichnen, das dem seiner Zeitgenossen zweifellos eher gleicht, als jenem von der Nachwelt entwickelten. So nähert sich Angelika Nebel in den wohl bekannten und beliebten frühen Klavierwerken Kinderszenen und Arabeske teilweise den von Schumann autorisierten Metronomangaben der Erstausgaben, die in der Regel von den Pianisten als fehlerhaft bezeichnet und nicht umgesetzt werden. Die Stücke erklingen so in ungewohnt schlankem Gewand, dessen perlend klares, fein nuanciertes Klangbild überzeugt. Auch die Fantasiestücke op. 111 von 1851 und die Gesänge der Frühe von 1853, Schumanns letzter Zyklus mit Charakterstücken, werden angemessen einfühlsam und mit beeindruckender technischer Lebendigkeit interpretiert. Dem lyrischen, oft verklärten Bereich wird die Pianistin ebenso gerecht wie den wild-aufbrechenden Passagen. Gerade jene in den fünf Stücken aus op. 133 aufflackernden transzendenten Sphären im Ausdruck prägen entscheidend die Geschichte der so genannten „Geister-Variationen“. Schumann schrieb sie im Februar 1854, als seine letzte, todbringende Krankheit zum Ausbruch kam. Er glaubte, Engel oder der Geist Franz Schuberts hätten ihm das Thema diktiert und aufgetragen, Variationen darüber zu verfassen. Noch vor seinem tragischen Sturz in den Rhein arbeitete er an der Reinschrift seiner Variationenreihe, die anrührend schlicht und doch so ergreifend daherkommt.

Neben diesen zum Teil ungewöhnlichen, vor allem aber ungewöhnlich interpretierten Stücken fügt Angelika Nebel ihrer CD eine weitere echte Rarität bei. Zwischen 1849 und 1853 komponierte Schumann drei Balladen für Deklamation mit Klavierbegleitung, von denen „Schön Hedwig“ lyrisch-charaktervoll eine Liebesgeschichte im Rittermilieu umsetzt, während die beiden anderen, „Ballade vom Haideknaben“ und „Die Flüchtlinge“ ausgesprochen grausige Sujets aufgreifen und in düsterer Stimmung verharren. Die Erstausgaben dieser in der Tradition der Melodramen-Komposition jener Zeit gehaltenen Werke tragen interessanterweise den Vermerk, dass man sie „auch ohne Declamation als selbstständiges Clavierstück“ ausführen könne. Eben in dieser Gestalt erklingen die drei Balladen auf vorliegender CD als Ersteinspielung. Keine leichte Aufgabe, der Angelika Nebel sich da gestellt hat! Ohne den dazu gehörenden Deklamationstext rückt zwar die Klavierstimme aus ihrer reinen Begleitfunktion in den Vordergrund, gibt aber doch an manchen Stellen alleine musikalisch nicht genug her, um als eigenständiges Klavierstück wirken zu können. Ohne Kenntnis der zu Grunde liegenden Dichtung bleiben manche Bereiche eher unverständlich. Insbesondere da, wo Akkorde über längere Zeit liegen bleiben oder textbedingte Pausen für das Klavier vorgeschrieben sind, ist die Vorstellungskraft des Hörers gefordert. Gelingt diese Imagination, so dass man sich völlig auf die Schönheiten und ausdrucksvollen Eigenarten des Klavierparts konzentrieren kann, geraten die meisten Passagen allerdings zu einen echten Hörerlebnis. Gerade jetzt lassen sich viele interessante Details wahrnehmen, die in der Version mit Deklamation untergehen. Angelika Nebel stellt hiermit eine überraschende Variante dieser – auch in ihrer Originalfassung nur recht selten gespielten – Balladen vor.

Eine CD, die wirklich jede Schumann-Sammlung bereichert, und deren Anhören nicht zuletzt wegen des harmonisch stimmigen Gesamteindrucks den reinsten Genuss bietet.

(Irmgard Knechtges-Obrecht)

Die Rezension ist noch nicht im Druck erschienen.