In Sach(s)en Musik?

Nach- und Missklänge aus Sachsen - mit und ohne Anhalt

Aus: Die Tonkunst - Das Monatliche Online-Magazin für klassische Musik
1.März 2005, Nr. 3, Jg. 3 (2005)


L.EAR [*] muss manchmal einfach weg aus dem Norden - nicht nur wegen des Klassik-Dumpings im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (aber das hatten wir schon im November). Kürzlich hat es ihn in die beiden Sachsen - mit und ohne Anhalt - verschlagen. L.EARS eigentliches Reiseziel tut nichts zur Sache. Doch zwei kulturelle Erlebnisse am Rande der Reise haben ihn länger beschäftigt: in Sachsen-Anhalt die Selbstverständlichkeit, mit der Kultur selbst in Bahnhöfen präsent ist, im Freistaat Sachsen die Leichtfertigkeit, mit der man eine der führenden musikalischen Gedenk- und Forschungsstätten Deutschlands über die kommunale Klinge springen lässt.

Zwei Bahnhöfe haben es L.EAR in Sachsen-Anhalt zunächst angetan, und zwar in Sachen Kultur. Nicht so sehr wegen der Architektur der Bahnhofshallen, sondern wegen der Bahnhofspassagen. Als er in Magdeburg umsteigt, stutzt er: In den Werbe-Vitrinen rechts und links der Passage machen nicht nur Läden und Bars auf sich aufmerksam, sondern auch Magdeburgs Oper und Theater. Was die Stadt kulturell zu bieten hat, springt jedem, der die Stadt per Bahnhof betritt, gleich ins Auge: Das gibt's heu­te Abend auf unserer Bühne zu erleben! L.EAR kann sich nicht erinnern, in Glitzer-Bahnhöfen alter Bundesländer solche städtischen Kulturofferten gesehen zu haben.
Die gleiche offensive, selbstverständliche Theater- und Opernwerbung findet L.EAR auch in Dessau - und er findet sie erfreulich. Offenbar hat die DDR-Formel vom "kulturellen Erbe", das es zu hegen und zu pflegen gelte (eine Formel, die damals wegen ihrer gebetsmühlenhafter Wiederholung und wegen des Kontrastes zu gewissen unerfreulichen kulturpolitischen Phänomenen teilweise belächelt wurde), doch nachhaltig gewirkt. Anscheinend hat man in Sachsen-Anhalt nicht wehklagend oder resignierend, sondern selbstbewusst reagiert, als die Finanz- und Kulturpolitiker ihre Rotstifte zu spitzen begannen. Im Dessauer Bauhaus wird L.EAR später klar, wie charmant und fantasievoll der Schein des Sparsam-Nüchternen sein kann, wenn Könner das Karge gestalten. Und abends hört er im erstaunlich großräumigen Anhaltischen Theater (das auch ein bemerkenswertes Opernarchiv besitzt) ein höchst lebendiges, gelungenes Konzert. Gespielt werden Berthold Goldschmidts Suite op. 5, deren Frühfassung der 21-jährige Komponist 1924 bei seinem kurzen Gastspiel als Korrepetitor-Volontär in Dessau uraufgeführt hatte, Mozarts "Jeune­homme-Konzert" (Solist: Denys Prosheyev, Gewinner des ARD-Wettbewerbs 2002) und Janáceks Sinfonietta. Gastdirigent Thomas Sanderling garantiert intensives, intelligentes Musizieren, findet nicht nur einen agilen Pianisten vor, sondern auch ein belastungsfähiges und -williges Orchester. Überhaupt scheint die "Anhaltische Philharmonie Dessau" mit ihrem Generalmusikdirektor Golo Berg die Sparzumutungen der öffentlichen Hand bisher erfolgreich beantwortet zu haben: mit Qualitätsoffensiven, verstärkter Öffentlichkeitsarbeit und erfolgreichem Operieren in Repertoire-Nischen. So engagiert man sich bei der Aufführung von Friedrich Schneiders legendärem Oratorium "Das Weltgericht". Und schon vor einiger Zeit kam L.EAR die CD eines vortrefflichen Live-Mitschnitts in die Hände, in dem das Orchester die reizvolle spätromantisch-naive Suite "Auf der Wanderschaft" des einstigen Dessauer Hofkapellmeisters August Klughardt (1847-1902) nebst Schuberts 3. Symphonie spielt.
Klar, L.EARS Eindrücke beim Halt in Sachsen-Anhalt sind höchst punktuell. Doch sie nötigen zu Respekt und Hoffnung: Kultur wird in diesem finanziell gebeutelten Bundesland nachhaltig propagiert, ernst genommen und geschätzt. Sie lebt.

Das böse Erwachen kommt im Freistaat Sachsen. L.EAR liebt die Musik Robert Schumanns. Darum steigt er in Zwickau aus, wo Schumann zur Welt kam. Am Hauptmarkt mit seinem schön renovierten Gewandhaus und dem Schumann-Denkmal findet er das Robert-Schumann-Haus, das an der Stelle des abgerissenen Geburtshauses steht. Zunächst besucht L.EAR die große Schumann-Dauerausstellung. Zahlreiche Dokumente, originale Möbel und Instrumente, fundierte Erläuterungen und manchmal auch musikalische Vorführungen geben den Besuchern anschauliche Einblicke in Schumanns Leben, Schaffen und Wirken. Dies ist die material- und umfangreichste Schumann-Gedenkstätte der Welt. Internationalen Rang hat das Archiv des Schumann-Hauses. Es umfasst die weltweit größte Schumann-Sammlung: zahlreiche Musikmanuskripte, die von Schumann gesammelten und teilweise mit Anmerkungen versehenen Handexemplare seiner Werke, persönliche Aufzeichnungen, Bilder und andere Dokumente. Man braucht nur einmal in Ernst Burgers faszinierendem Bildband "Robert Schumann. Eine Lebenschronik in Bildern und Doku­menten" (Schott/Mainz etc. 1999) oder in Margit McCorkles großem neuen Schumann-Werkverzeichnis (Henle/München 2003) zu stöbern, um zu erkennen, wie viele der dort abgebildeten oder angeführten Dokumente aus Zwickau stammen. Auch Schumanns Gattin, die hochbedeutende Pianistin Clara Schumann, ist im Museum und im Archiv höchst gewichtig präsent - nicht zuletzt mit der riesigen Sammlung ihrer 1200 Konzertprogramme. So sollte man eigentlich vom Zwickauer Schumann-Doppelhaus sprechen. Es gehört zu den wichtigsten deutschen Gedenk- und Forschungsstätten im Bereich der Musik.

Rund um den Globus weiß das nahezu jeder Schumann-Forscher, wissen es zahlreiche Künstler und Schumann-Enthusiasten. Schon zu DDR-Zeiten pflegten die damaligen Direktoren Dr. Georg Eismann und später Dr. Martin Schoppe internationale Kontakte - soweit damals irgend möglich. Gleiches gilt für den amtierenden Direktor Dr. Gerd Nauhaus, der früher Schoppes Stellvertreter war. Nauhaus ist ein weltweit bekannter und gerühmter Schumann-Spezialist, der unter anderem in den 1980er Jahren zwei umfangreiche, hervorragend kommentierte Bände mit Schumanns schwer zu entziffernden Tage- und Haushaltbüchern herausgab. Nach der "Wende" wurde dann im Schumann-Haus im Rahmen der Bund-Länder-Finanzierung eine zusätzliche Mitarbeiterstelle (Dr. Ute Bär) für die Neue Schumann-Gesamtausgabe eingerichtet, was äußerst sinnvoll war, da die Düsseldorfer Schumann-Forschungsstelle der Gesamtausgabe bei ihrer Arbeit permanent auf die Zwickauer Bestände angewiesen ist. Vom Schumann-Haus und seinem Direktor wurden und werden außerdem die Zwickauer Musiktage und der renommierte Internationale Robert-Schumann-Wettbewerb für Klavier und Gesang konzipiert und betreut - Projekte, bei denen ebenfalls Schumanns Schaffen im Mittelpunkt steht.

All das erfährt L.EAR, als er das Museum und das Archiv besucht, sowie aus Büchern. Andeutungsweise hört er beim Zwickauer Zwischenstopp aber auch, was später durch einen brieflichen Hilferuf der Zwickauer Schumann-Gesellschaft, durch Zeitungsartikel und kritische Rundfunksendungen zur brisanten, erschreckenden Gewissheit wird: Das Robert-Schumann-Haus droht auf den (kommunalen) Hund zu kommen. Denn Direktor Gerd Nauhaus geht im Sommer in den Ruhestand. Die Stadt Zwickau will, entgegen früheren Zusagen, die Gelegenheit nutzen und angesichts ihrer dramatischen Finanzlage zumindest vorübergehend (?) am Schumann-Haus sparen: Abenteuerliche Konzeptionen werden angedacht und gelangen in die Presse: Wie dringlich ist überhaupt eine neue Direktoren-Stelle? Kann man nicht von den 6 Mitarbeiterstellen, die 1993 von ehemals 18 übrig geblieben sind, noch etwas abknapsen? Könnte nicht die Musikwissenschaftlerin, die für die Gesamtausgabe arbeitet, die wissenschaftlichen und repräsentativen Pflichten des scheidenden Direktors noch mit übernehmen? Und ließen sich nicht Schumann-Wettbewerb und Zwickauer Musiktage von einer Verwaltungskraft allein betreuen?
Zwickaus "Bürgermeisterin für Kultur und Soziales", Pia Findeiß (SPD), nimmt kein Blatt vor den Mund: Ihrer Meinung nach könnte - laut Rundfunk-O-Ton - die "wissenschaftliche Begleitung" des Schumann-Hauses notfalls "auch mal für 'ne gewisse Zeit ruhen" und nur der Museumsbetrieb weiterlaufen: "Es geht einfach um die Organisation der Arbeit, die für 'ne gewisse Zeit mal nicht den Schwerpunkt wissenschaftlicher Arbeit hat, sondern einfach den Schwerpunkt, dass das Robert-Schumann-Haus als Museum aufrecht erhalten bleibt." Wirklich ganz "einfach", findet L.EAR - wie in jedem unsoliden Industriebetrieb: Wenn der bisherige Leiter aufhört, schließt man erstmal für "'ne gewisse Zeit" die Forschungsabteilung. Danach kann man den Betrieb dann vermutlich ganz dichtmachen: wegen fehlender Zukunftsfähigkeit...

Was Woche für Woche - und erst recht kurz vorm Schumann-Jahr 2006 - aus dem In- und Ausland an dringlichen Fragen, Informationen und Projekten von Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Verlagen, Filmemachern oder Pädagogen ans Schumann-Haus herangetragen wird, will Kulturbürgermeisterin Findeiß (früher Sportlehrerin) offenbar "einfach" erstmal auf Eis legen: Zwickau spart, die Welt kann warten! Wie ernst sie ihre kulturelle Aufgabe nimmt, zeigt sich auch daran, dass sie im Rundfunk verlautbaren lässt, die Bedeutung des Robert-Schumann-Hauses für die Musikwelt sei ihr bewusst, dennoch sei Zwickau im weiteren Umkreis "nicht in erster Linie als Geburtsort Robert Schumanns, sondern eher als Wirkungsort des Automobil-Pioniers August Horch bekannt." Da ist wirklich die richtige Frau am richtigen Platz! In gewisser Weise hätte es, stöhnt L.EAR, zumindest Symbolkraft, wenn das international gefragte Schumann-Archiv gerade zu Schumanns 150. Todestag den kommunalen Blattschuss erhielte.


Dabei war seit der "Wende" zunächst viel passiert: Endlich konnte das Archiv nach Jahrzehnten der Stagnation seine Bestände wieder erweitern. (Bei Archiven und Museen sagt man ja nicht zu Unrecht, Stillstand sei Rückschritt.) Mit Hilfe von staatlichen Institutionen, Sponsoren und der Zwickauer Schumann-Gesellschaft konnten wertvolle Handschriften und Drucke erworben werden. Das Schumann-Haus war an der Gesamtausgabe und am Werkverzeichnis beteiligt. Die internationale Kommunikation wurde durch die neuen Medien leichter und schneller. Doch nun droht statt der Champions League der Schumann-Forschung die kulturelle Regionalliga, fürchtet L.EAR - und mit ihm viele, die schon geharnischte Protestbriefe nach Zwickau geschickt haben.

Womöglich muss man aus den Äußerungen der Kulturbürgermeisterin aber auch lernen. Vielleicht sollte fürs Schumann-Haus in mancher Hinsicht noch mehr "geklotzt" werden. Vielleicht muss man die Bedeutung und den Reiz des Schumann-Standortes Zwickau bei Reiseveranstaltern und Kult(o)uristen noch lautstärker vermarkten. Vielleicht kann das Archiv (sofern sich Geldgeber finden) seine Bestände auf längere Sicht so öffentlichkeitswirksam für internationale Interessentenkreise erschließen wie das Bonner Beethovenhaus, das seine Sammlungen inzwischen in einem "Digitalen Archiv" präsentieren kann.

Vernünftig lässt sich die Zukunft des Schumann-Hauses freilich nur im richtigen Rahmen planen - innerhalb einer Kultur- und Forschungspolitik, die über den Rand des leeren Stadtsäckels und über den Horizont Zwickaus hinausblickt. Der Freistaat Sachsen darf vom fernen Dresden aus nicht vornehm zusehen, wie der internationale Rang des Schumann-Hauses kommunaler Kurzatmigkeit geopfert wird. Er muss das Schumann-Haus so beobachten und begleiten, wie es dessen Niveau und Ruf entspricht. Er muss sich direkt oder als Mittler in die Pflicht nehmen lassen, soll Zwickau nicht vor den Augen der Musikwelt zu Sachsens kultureller Blamage führen.
Oder, fragt sich L.EAR, sollte Schumann besser auswandern, wenn seine Vaterstadt das Schumann-Haus für zu gut und zu teuer hält? Vor etlichen Jahren hat das Max-Reger-Institut - das allerdings auf einer Stiftung basiert und daher mobiler ist - so etwas erfolgreich vorgemacht: Als Bonn und Nordrhein-Westfalen das Institut nicht mehr so richtig liebten und förderten, ließ man sich von Baden-Württemberg nach Karlsruhe abwerben. Heute residiert Reger in der "Karlsburg" Durlach, hat exzellente Kontakte zur Karlsruher Musikhochschule und ist mit Ausstellungen, Vorträgen, Kon­zertbegleitungen und einem neuen Werkverzeichnis-Projekt aktiver denn je. Womöglich gibt es ja außerhalb Zwickaus, Sachsens oder Deutschlands Institutionen und Menschen, die kultur- und forschungspolitischen Verstand und Weitblick, künstlerische Verantwortung und natürlich Geld haben, um einen Schatz wie das Schumann-Haus zu begehren und zu fördern. Dann wäre Zwickau plötzlich Ex-Schumannstadt. Und wenn der Name der Stadt fiele, würde die Musikwelt spotten: Horch, Schumanns Schilda!


[*] An dieser Stelle kommt L.EAR zu Wort. Anders als Shakespeares tragischer King Lear, der an seiner Mitwelt verzweifelt, reibt sich Ohrenmensch L.EAR mit satirischen Anfällen an Ereignissen und Zumutungen im Bereich der Tonkunst. Was das L. vorm EAR bedeutet - laughing, leery, listening, lost, lonely, lugubrious, lying oder …? - mögen die LeserInnen selbst entscheiden.

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